Stark eingewuchert in einer Hecke bei Heroldingen auf der Flur „Otterflecken“ fristete ein Apfelbaum sein Dasein – von Vögeln geschätzt, von Menschen vergessen. War es irgendein wild aufgegangener Sämling? Ein Rundgang mit dem Pomologen Hans-Thomas Bosch dort am Riesrand brachte bei nur spärlichem Fallobst Gewissheit: ein Gravensteiner! Mindestens zehn weitere Bäume dieser Sorte, die seit 1669 bekannt ist, sind bei einer landkreisweiten Apfelsortenermittlung Jahr registriert worden.
Die Herkunft deutet auf den Ort Gravenstein in Nordschleswig hin, doch ist dies nicht absolut sicher. Nordamerika und Kanada kennen den Apfelbaum ebenso wie das Gebiet von Norwegen bis Südtirol. Dennoch flog die so wohlschmeckende, druckempfindliche, nicht lang haltbare Sorte aus dem modernen Erwerbsobstanbau heraus. Dabei handelt es sich um eine ausgezeichnete, wohlriechende Frucht.
08/15-Schnitt, wie er so oft mit seinen vielen Wassertrieben zu beobachten ist, wird beim Gravensteiner kaum Früchte hervorbringen. Es reicht ein mäßiger Baumkronenaufbauschnitt. Zur Fruchtholzbildung beschneide man die Nebentriebe eher nicht. Es dauert, bis der Baum trägt – und das mittelmäßig bis unregelmäßig. Viele Äpfel fallen schon vor der Ernte, doch sie lassen sich gut verwerten. Spät geerntet entfalten sie das volle Aroma. An dieses erinnert sich ein Nachfahre der Mühlen entlang der Schwalb ebenso wie ein „Zugereister“ aus der Steiermark. Diese Leute brauchen nicht erst durch einen Artikel wie diesen überzeugt zu werden.
Wenig wechselhaftes Klima mit gutem, ausreichend feuchten Boden liebt der Gravensteiner. Für Schorf und Mehltau ist die Sorte durchaus anfällig, Spätfröste setzen der Blüte zu. Weil der Baum jedoch selbst im rauen Westerwald in relativer Tallage nachweislich gedeiht, muss man bei dieser stark wachsenden Art wohl nicht zu viel Angst haben. Wie gut, dass wir Bäume dieser Art bei uns noch käuflich erwerben können, um ihnen wieder mehr Verbreitung zu gönnen – gerne auch im Rahmen der Aktion „100.000 Bäume für den Landkreis“. Dann aber sollte der Gravensteiner nicht in einer Hecke verkommen und durch richtige Pflege die Gelegenheit erhalten, mit Hochgenuss für regionale Gesundkost zu sorgen.
Steckbrief:
Baum: teil sehr starker Wuchs, Leitäste steil bis schräg aufwärts wachsend, breite, ausladende Krone
Blüte: frostempfindlich, schlechter Pollenspender
Schale: grüngelb bis gelb, sonnenseits karminrot marmoriert oder geflammt
Frucht: mittelgroß bis groß, hervorragender Tafel- und Wirtschaftsapfel mit raumfüllendem Duft
Pflückreife: frühestens ab Anfang August
Genussreife: ca. Anfang Oktober
Haltbarkeit: bis November
Ralf Hermann Melber, 8. Februar 2025