Im Kreis Neuss am Niederrhein züchtete um 1830 ein Vikar Schumacher einen Sämling, vermutlich aus dem Kern einer „Harberts Renette“, wie sie z.B. noch bei Schrattenhofen steht. Durch molekulargenetische Untersuchungen fand man heraus, dass die damals neu entstandene Sorte „Peter Broich“ identisch ist mit einem angeblich erst 1864 gefundenen Sämling.
Dorflehrer Carl Hesselmann aus Witzfelden bei Solingen war ein schlauer Mann. Er schickte im Jahr 1875 an den „Allerdurchlauchtigsten, Großmächtigsten Kaiser“ Wilhelm I. 35 Äpfel der eben erwähnten Sorte, später einen Baum davon, und erhielt die huldvolle Genehmigung, „diesen wahrhaft majestätischen Apfel“ nach dem Regenten zu benennen. Somit war bis zum Einzug des Niederstamm-Plantagenobstbaus die häufigste Sorte in den bäuerlichen Hochstammgärten hoffähig gemacht. Der „Kaiser Wilhelm“ wurde in der ehemaligen DDR nur „Wilhelmsapfel“ genannt, weil Adelstitel im Arbeiter- und Bauernstaat verpönt waren.
Noch heute befindet sich am Brennhof bei Heroldingen ein ansehnlicher Kaiser-Wilhelm-Apfelbaum. Doch auch unterhalb des städtischen Friedhofs in Harburg scheint sich ein alter Zeitgenosse dieser Art – seit 2023 gestützt auf ein Stück Holz – vor den Gräbern zu verneigen.
Die Früchte können recht groß werden und symbolisieren so die Machtfülle eines Kaisers. Doch gerade dann neigen sie zu Fleischbräune und Stippe. Auch die Bäume wachsen groß und kräftig, weshalb Obstbaumschnitt hier nur mäßig erfolgen soll. Die auf Bestäubersorten angewiesene Blüte hält lang an, weshalb Fruchtbehang in Jahren ungünstiger Witterung eher möglich ist. Die Bäume können recht alt werden. Auch das entspricht Kaiser Wilhelm I., der fast 91 Jahre alt geworden ist. Bald nach seinem Tod entstand ca. 1890 das Lied: „Wir wollen unseren alten Kaiser Wilhelm wiederhaben.“ In Form der Apfelsorte ist dies problemlos möglich, ohne auch nur im Geringsten unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung in Zweifel zu ziehen. Fragt sich nur: Wie müsste ein zu verbreitender Apfel heute heißen, um ihn ebenso erfolgreich zu vermarkten?
Steckbrief:
Baum: sehr starkwüchsig, groß, hochkugelig (kann sehr alt werden)
Blüte: mittelfrüh, triploid, lang anhaltend, frostunempfindlich
Schale: grün-gelb, Sonnenseite hell- bis dunkelrot, flächig oder gestreift gefärbt, deutlich sichtbare, hell umhöfte Lentizellen (Schalenpunkte)
Frucht: mittelgroß bis groß, kugelförmig abgeflacht, teils schwache, breite Kanten, später mehlig
Pflückreife: ab Ende September
Genussreife: ca. Oktober
Haltbarkeit: bis Februar
Ralf Hermann Melber, 19. Februar 2023